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Im Zweifel die Mitte

1. Auf den Punkt gebracht

Erstmalig im deuschsprachigen Raum wurde in einem experimentellen Setting mit dutzenden Berufsrichtern untersucht, inwiefern sich Zivilrichter von überhöhten Klagebegehren im Rahmen von Vergleichsgesprächen, die sie zwischen den Streitparteien anzuleiten haben, beeinflussen lassen. Es zeigte sich, was im US-amerikanischen Raum bereits im Kontext der dortigen Laiengerichtsbarkeit festgestellt werden konnte: Wer wohl überlegt überklagt, ist in Vergleichsgesprächen von Vorteil. Berufsrichter sind gegenüber dem sogenannten Ankereffekt nicht immun, unterliegen ihm aber in milderer Form als "einfache" Juristen oder juristische Laien.

2. Fragestellung

Anwälte sind nach den Wahrnehmungen des Autors immer wieder mit einem bemerkenswerten Umstand konfrontiert: Wenn in einem Zivilverfahren, in dem eine konkrete (in der Regel Geld-)Leistung gefordet wird, das Klagebegehren besonders - in manchen Fällen möchte man meinen: beinahe absurd - hoch angesetzt wird, reüssieren klagende Parteien in Vergleichsgesprächen eher, als wenn ein Klagebegehren gefordert wird, das ex ante betrachtet als realistisch und (im Obsiegensfall der klagenden Partei der Höhe nach) realistisch erscheint.

Ob diese Wahrnehmung repräsentativ ist oder dem "Tunnelblick" des Autors geschuldet ist, untersuchte der Letztgenannte in einer umfangreichen Studie, an der mehr als 60 österreichische Berufsrichter teilnahmen. Diese wurden mit einem fiktiven Fall konfrontiert, nach dessen Studium sie Vergleichsgespräche zwischen Streitparteien anleiten sollten. So wurden bestimmte Faktoren, etwa der als angemessen erachtete, von der beklagten Partei zu leistende Betrag, erhoben.

Dieselbe Studie wurde mit zwei weiteren Gruppen an Teilnehmern durchgeführt: Einerseits mit Personen mit juristischer Ausbildung, aber ohne Verhandlungserfahrung vor Gericht, andererseits mit juristischen Laien. Diese Ergebnisse wurden jenen der Erhebungen mit Richtern gegenüber gestellt.

Die Erkenntnisse der experimentellen Befragung von insgesamt mehr als 550 Personen mögen für die rechtssuchende Bevölkerung, in deren Augen Justitia blind, also unvoreingenommen und sachlich urteilt, verstörend wirken. Denn ein verhaltenspsychologischer Effekt dürfte dazu führen, dass Justitia ihre Augenbinde abstreift und ihren Blick mit großem Interesse besonders hohen Geldbeträgen zuwendet.

3. Der Ankereffekt

3.1 Allgemeines

Der Ankereffekt ist ein kognitiver Verzerrungseffekt, bei dem Menschen dazu neigen, sich zu stark auf das erste erhaltene Informationsstück, den "Anker", zu verlassen, wenn sie Entscheidungen treffen. Die nachfolgenden Urteile und Interpretationen werden oft durch diesen ersten Anker beeinflusst, was zu potenziell irrationalen und voreingenommenen Ergebnissen führen kann.

Im rechtlichen Kontext, sowohl in Strafverfahren als auch in Zivilverfahren, kann der Ankereffekt erhebliche Auswirkungen haben.

3.2 Strafverfahren

In Strafverfahren kann der Ankereffekt in verschiedenen Phasen des Prozesses eine Rolle spielen. Studien, die vornehmlich in den USA und vereinzelt in Deutschland durchgeführt wurden, zeigen beispielsweise, dass der Ankereffekt...

  • ... in der Vorverhandlungsphase auftreten kann, wenn Staatsanwälte die Anklageerhebung vorbereiten: Einem Beschuldigten, der als erster mit einer schweren Anklage konfrontiert wird, könnten weniger günstige Bedingungen in einem möglichen "Deal" angeboten werden, als wenn der erste Anker eine weniger schwere Anklage wäre ("Deals" zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung sieht das österreichische Strafrecht im Allgemeinen nicht vor);

  • ... im Prozess sowohl Richter als auch Geschworene beeinflussen kann: Vorangegangene Beweise, Zeugenaussagen oder Argumente können als Anker dienen und die Wahrnehmung später vorgelegter Informationen beeinflussen. Beispielsweise kann ein Zeuge, der als erster aussagt, die Meinung der Jury über die Glaubwürdigkeit nachfolgender Zeugen beeinflussen;

  • ... bei der Urteilsfindung durch das Gericht eingreifen kann: Die anfänglich von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafe kann als Anker dienen und das endgültige Strafmaß beeinflussen. Wenn die Staatsanwaltschaft beispielsweise eine hohe Strafe fordert, führt dies im Durchschnitt zu einer höheren, vom Gericht verhängten Strafe, als wenn die Staatsanwaltschaft eine niedrigere Strafe fordert (nach österreichischem Strafprozessrecht fordert die Staatsanwaltschaft keine konkrete Strafhöhe, sondern typischer Weise eine angemessene Bestrafung).

3.3 Zivilverfahren

Auch zu Zivilverfahren wurden die meisten vorliegenden Studien in den USA durchgeführt, in denen allerdings die prozessuale Besonderheit besteht, dass Prozessparteien auch in Zivilrechtssachen Anspruch auf die Entscheidung einer "Jury" haben. Mit anderen Worten kommt der Laiengerichtsbarkeit in den USA auch in Zivilrechtssachen eine weitaus höhere Rolle zu, als wir dies aus dem deutschsprachigen Raum kennen. Derartige Studien zeigen, dass das Gericht...

  • ... das Vorliegen eines Schadens eher anzunehmen tendiert, wenn ein besonders hoher Schadenersatzbetrag begehrt wird;

  • ... die Obsiegenschancen der klagenden Partei tendenziell höher einschätzt, wenn ein besonders hoher Schadenersatzbetrag begehrt wird;

  • ... dem Kläger tendenziell einen höheren Schadenersatzbetrag zuerkennt, wenn ein besonders hohes Klagebegehren gestellt wird.

Doch gilt all das auch, wenn - wie in Österreich der Regelfall - in Zivilrechtssachen Berufsrichter entscheiden, die eine solide juristische Ausbildung und umfangreiche Kenntnisse in der Verhandlungsführung haben, von denen man annehmen könnte, dass sie neutral und rein von sachlichen Argumenten getragen entscheiden? Ja! Die vom Autor durchgeführte, verschiedenste Aspekte der Beeinflussung von Entscheidungsträgern beurteilende Studie zeigt, dass auch Berufsrichter dem Ankereffekt unterliegen, und zwar weniger stark als Nicht-Richter, aber doch in statistisch signifikanter Art und Weise.

Beispielsweise wurde untersucht, einen wieviel höheren Betrag ein Entscheidungsträger einer beklagten Partei zur Leistung an die klagende Partei vorschlägt, wenn die klagende Partei ein Klagebegehren fordert, das von einer großen Mehrheit der Entscheidungsträger zutreffender Weise als zu hoch eingeschätzt wird - von dem also die allermeisten Entscheidungsträger sogar erkennen, dass es unrealistisch hoch ist. Bemerkenswertes Ergebnis: Es zeigte sich, dass ein vierfach so hohes Klagebegehren (Forderung von 400 % vs 100 %) unter Richtern dazu führt, dass diese eine mehr als doppelt so hohe Zahlung durch die beklagte Partei an die klagende Partei vorschlugen (Faktor 2,2), während Juristen ohne Gerichtserfahrung (Faktor 2,92) und juristische Laien (Faktor 2,7) sogar eine beinahe dreimal so hohe Leistung vorschlugen. Wohlgemerkt: Rein auf Basis der Forderung der klagenden Partei und ohne Durchführung eines Beweisverfahrens.

Ebenso wurde überprüft, ob beziehungsweise unter welchen Umständen richtende Personen dazu tendieren, zur vergleichsweisen Lösung einen Betrag in der Mitte zwischen der Forderung der klagenden Partei (Klagebegehren) und der Gegenforderung (etwa dem Zahlungsangebot) der beklagten Partei vorzuschlagen. Dieser "split the difference"-Ansatz zeigt im Studiensetting dann seine stärkste Verbreitung, wenn die Forderungen der beiden Streitparteien von der entscheidenden Person zwar als hoch (Kläger) oder niedrig (Beklagter) erkannt werden, aber nicht als geradezu krass oder oder gar absurd hoch (Kläger) oder niedrig (Beklagter).

Möglicher Weise denken Sie jetzt, die Differenz in der Mitte "durchzuschneiden", sei fair. Dann denken sie ähnlich wie unsere Berufsrichter - und unterliegen zugleich in den allermeisten Fällen einem fundamentalen Denkfehler. Warum dem so ist, und welch andere psychologische Folgen ein sehr hohes Klagebegehren auf Entscheidungsträger hat, lesen Sie in "Im Zweifel die Mitte: Zur Bedeutung des Ankereffekts in Vergleichsgesprächen vor Zivilgerichten", erschienen im Tectum Wissenschaftsverlag und erhältlich unter anderen auf Amazon und im Manz Verlag. 2023 © Schmelz Rechtsanwälte OG

 

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